Fußballboom Anfang der Sechzigerjahre – wie ich ihn erlebte

Zu Beginn der Sechzigerjahre wohnte ich in Schwechat, arbeitete von 6-14 Uhr beim Autohändler Nekam als Autowäscher um mein Studium zu finanzieren und fuhr dann meist mit dem Rad in die Maturaschule am Hamerlingplatz im 8. Bezirk, wo ich die HAK besuchte. In Schwechat lernte ich sehr bald den L. Heinz kennen, der damals die „Grafische Lehr- und Versuchsanstalt“ in Wien besuchte und auch seine Freunde kamen beinahe alle aus dieser Zunft. Wir waren bald eine eingeschworene Clique, fast alle Austria-Fans und selbstverständlich auch Schwechat-Anhänger. Fußball stand hoch im Kurs und wir spielten auch selbst manchmal in der alten Schwechater Brauhaushalle, zusammen mit den Brüdern Jeannée, die gegenüber dem Brauhaus wohnten. Einer der Brüder wurde dann der bekannte „Adabei“-Journalist bei der Krone und bei einem Cousin von ihm sollte ich später arbeiten. Im neuen Schwechater Schwimmbad spielten wir manchmal auf der Wiese, unter anderem mit „Waschi“ Frank, einem Spieler der Austria und mit „Schani“ Skocik, der mich auch des Öfteren mit seinem Auto nach Wien mitnahm. Skocik war Angestellter bei der Länderbank und Rapid-Spieler, genauso wie Franz Hasil, der zu der Zeit auch in Schwechat wohnte und den ich oft im „Kistl“ traf, dem damaligen Schwechater In-Lokal. Beide Fußballer machten internationale Karriere, der eine, Hasil, wurde mit Feijenoord auch Weltcupsieger.

Fußball und besonders die Austria, war damals schon meine große Leidenschaft. Die Stadien waren zu der Zeit voll oder zumindest gut gefüllt, bei großen Spielen war es schwer, überhaupt Karten zu bekommen. Ich erinnere mich noch gut an zwei Länderspiele: Österreich gegen Spanien (3:0) und Österreich gegen England (3:1). Nationalstolz hatte für mich damals noch einen Wert, der vor allem durch die lange Besatzungszeit und in der Divergenz zu Deutschland begründet war. Österreicher zu sein bedeutete an etwas neu Beginnendes zu glauben, dem kleinen Staat seine Identität zu geben, die er bislang nicht erhalten hatte. Fußball wurde weltweit gespielt, war ein geeignetes Instrument, sich mit anderen Staaten friedlich zu messen und wurde daher auch weltweit beachtet. Dass dann auch noch ein junger Spieler meiner Austria, Horst Nemec, bei allen Toren beteiligt war, gab mir ein zusätzliches Glücksgefühl. Neben Nemec waren noch Stotz und Swoboda dabei, wobei Nemec im neuen 4-2-4 System (!) als Rechtsaußen fungierte. Die Aufstellung der Österreicher lautete: Schmied; Trubrig, Stotz, Koller, Swoboda; Hanappi, Senekowitsch; Nemec, Hof, Buzek, Hamerl. Statt Hamerl wurde dann Flögel eingetauscht. Aber meine Augen waren vor allem auch auf die Weltstars der Spanier wie di Stefano, Gento, Santamaria, Suarez usw. gerichtet. Schließlich sah ich sie zum ersten Mal live, genauso wie bei den Engländern die Spieler Charlton, Haynes oder Greaves. Zudem war das Feeling im und um das Stadion damals für mich neu, aufregend und einmalig. Massen an Menschen die durch Prater zogen, bummvolle Straßenbahnen die erwartungsvolle Anhänger ausspuckten, sich an den Eingängen drängten um dann ungeduldig auf den Anpfiff zu warten.

Beim ersten Spiel gegen Spanien am 30. Oktober 1960 kamen über 90.000 Zuseher in das Praterstadion, das zwar bereits ausgebaut war, jedoch nur über 20 Prozent Sitzplätze verfügte. Wir standen, genauso wie gegen England, so dicht zusammengepresst, dass es praktisch unmöglich war, sich eine Zigarette anzuzünden. Gegen England gab es mit über 91.000 einen Zuschauerrekord, der nie mehr übertroffen werden sollte. Ab diesem Zeitpunkt erkannte man das Risiko, dass eine so dicht stehende Masse in sich barg, zudem wurde der Ruf nach Sitzplätzen, das heißt nach mehr Bequemlichkeit, immer lauter. Tatsächlich wurde von diesem Zeitpunkt an das Praterstadion (heute Happelstadion) zurückgebaut und nur noch mit Sitzplätzen ausgestattet. In den Sechzigern war man einfach noch fußballverrückt. Als beispielsweise die Austria den – wie sich später heraus stellte – nicht mehr so fitten Benfica-Spieler Aguas verpflichtete, kamen bei einem Freundschaftsspiel gegen den FC Köln beinahe 40.000 Zuschauer ins Stadion, nur um diesen Weltstar zu bewundern. Bei einem Doppel mit Austria – Lask und Rapid – Vienna kamen gar 70.000 Zuschauer, 40.000 bis 60.000 beim Derby gegen Rapid waren keine Seltenheit ebenso gab es beim Europacupspiel Austria gegen Benfica (1:1) das bislang größte Verkehrschaos, als über 80.000 Zuschauer für einen Zuschauerrekord bei Vereinsspielen sorgten. Ich erinnere mich noch gut daran, wie wir in der 71er-Straßenbahn auf der Simmeringer Hauptstraße dicht gedrängt standen und nichts mehr weiter ging. Viele, darunter auch ich, stiegen aus und gingen dann zu Fuß ins Praterstadion. Da damals noch mehrere Zeitungen mit Schwerpunkt Fußball wie „Die Welt am Montag“ oder der „Express“ erschienen, war es auch leichter, die Spiele richtig anzuheizen. Leider galt das in erster Linie nur für internationale Spiele, denn zum Meisterschaftspiel und der gleichzeitigen Meisterfeier der Austria waren gegen den GAK am Wackerplatz in Meidlung ein Jahr später nur 3000 Zuschauer zugegen. International hingegen wollte man offensichtlich der Welt zeigen, dass der österreichische Fußball immer noch Weltgeltung hatte und berichtete im Vorfeld in den Medien mit steigender Begeisterung.

Eines dieser Spiele, von der Presse aufgeputschten, Spiele war das Retour-Match im Europacup zwischen Rapid und Benfica. Ich war zwar Austrianer, aber dieses Match wollte ich mir nicht entgehen lassen. Aus einem unerfindlichen Grund hatte aber Rapid nur 40.000 Karten aufgelegt, während über 60.000 Menschen das Spiel sehen wollten. So sahen sich viele, darunter auch ich, gezwungen, über den Zaun zu klettern. Dabei passierte es, ich ausrutschte und blieb mit der Hand an der Zaunspitze hängen. Mein weißes Stofftaschentuch hielt ich dann das ganze Spiel über auf die Wunde und verbiss die Schmerzen. Das Tuch war dann nur noch rot und am nächsten Tag bekam ich von Dr. Klima, dem Vater des späteren Bundeskanzlers, einige Nähte auf die Handfläche, welche die ganze Nacht nicht zu bluten aufhörte. Das Spiel wurde übrigens beim Stand von 1:1 abgebrochen, da ein Teil der aufgebrachten Zuschauer – das Spiel war sehr unfair und von einigen Ausschlüssen begleitet – auf das Spielfeld gelaufen waren. Einige Rapid-Spieler jagten die Benfica-Spieler, die nicht wussten wie ihnen geschah, über das ganze Spielfeld, um sie dann mit Faustschlägen zu traktieren. Es war der erste internationale Fußballskandal auf Wiener Boden.

Unverdrossen stand ich dennoch am darauffolgenden Sonntag wieder auf dem Fußballplatz, um meine „Veilchen“ anzufeuern. Das Geld dafür, wenn nötig auf Pump, war immer vorhanden. Wenn „Fan“ von fanatisch kommt, dann war ich so einer. Austria war und ist noch immer der Club in Wien, der zwar nur halb so viel Anhänger hat wie der Erzrivale Rapid, aber immer als der Klub galt, der für hohe Spielkultur stand. War es eine Trotz- und „Jetzt erst recht“-Mentalität, nämlich einer Minderheit anzugehören, oder war es die technisch feinere Klinge, die Austria im Gegensatz zu Rapid führte, oder war es eine Mixtur von allem, ich kann es heute nicht mehr sagen. Ich war Austrianer, das genügte. Einmal Violetter, immer Violetter. So dachten auch die Herren Ernst Waldbrunn, Attila Hörbiger, Peter Vogel, Friedrich Torberg, Franz Muxeneder und viele andere bekannte Künstler, die ich damals zum Teil persönlich im Stadion erleben durfte, genauso wie heute Alfred Dorfer, Josef Hader, Thomas Stipsits, Kaus Eckel und Peter Simonischek und viele andere mehr. Sie waren, wenn sie das Spiel verfolgten, um nichts weniger leidenschaftlich als ich. Fan zu sein heißt Verpflichtung, den Club immer und überall zu verteidigen, alle Interessen hintan zu stellen und den Jahresterminplan möglichst nach Meisterschafts-, Cup- und Europacupspielen festzusetzen und dann erst die anderen notwendigen Dinge des Lebens einzutragen. Fan sein heißt, in keinem Fall an einem Meisterschaftstermin ein Fest anzusetzen, auch nicht den Hochzeitstermin oder die Kindstaufe. Dem Fan-Sein wird alles untergeordnet, auch jede noch so verheißende Verabredung mit einer Frau. Wer das schafft und ähnlich denken kann, der kann meine Leidenschaft verstehen. Ich war mein Leben lang und bin auch heute noch ein Besessener, der diese, übrigens unheilbare, „Krankheit“ in sich trägt und dabei noch glücklich ist, auch wenn er, so wie ich, nach einem verlorenen Spiel von einem unguten Magengefühl begleitet, persönlich beleidigt und zudem nicht ansprechbar ist. Selbst ein glorreich gewonnenes Spiel zieht ein „time out“ nach sich, weil man ja mental vollkommen erschöpft ist.

Für einen Studenten war es allerdings nicht immer leicht, sich einen Stadionbesuch zu leisten. Doch man lernte sehr bald den Trick, wie man ins Stadion kam. Ein oder zwei Schillinge in die Hand des „Türlstehers“ (Drehkreuze mit Zählautomatik gab es erst später) und drinnen war man.

Da ich damals meine Ausgaben genau aufzeichnete, kann man die Preise der Konsumgüter zu heute gut vergleichen. Die Preise habe ich in Euro umgerechnet.

Für ein Zimmer zahlte ich 32 Euro Miete. Der Kurier kostete 7 Cent, Zigaretten 26 Cent, 1 kg Brot 28 Cent, 1/8 Butter 32 Cent (!), 1 l Milch mit Flascheneinsatz 41 Cent (!), 1 l Coca Cola mit Einsatz (3,6 Cent) 25 Cent (!), Stadioneintrittskarten (Stehplatz) zwischen 65 und 87 Cent, eine Straßenbahnwochenkarte 1,60 Euro, eine Seife 26 Cent, Kaffee 29 Cent, Rasiercreme 49 Cent, ein Mittagessen im Gasthaus 73 Cent. Wie man hier sieht, waren Grundnahrungsmittel sehr teuer, Zigaretten, Stadion, Straßenbahn, Wohnungsmiete und Ähnliches kann man heute wohl mit 12 multiplizieren, dann hat man ungefähr den heutigen Preis.

Durch eine Bekanntschaft mit einem Sportreporter erhielt ich einen Journalistenausweis von der „Welt am Montag“. Meine Aufgabe war es, von den Spielen der B-Liga zu berichten, was ich ein paar Mal auch tat. Den Ausweis allerdings behielt ich mir und da die Kontrollen damals nicht so streng waren, verschaffte dieser mir den Gratis-Zugang zu den Spielen. Mein Vorgesetzter wäre Richard Nimmerrichter gewesen, der später in der Krone als Staberl bekannt wurde. Ihn persönlich lernte ich nie kennen, die etwas zweifelhafte Art der Berichterstattung (irgendwelche, oft unglaubliche Berichte aus dem Ausland, bei denen man nur schauen musste ob irgendeine Agentur angegeben war) sehr wohl. Die hatte man in der Redaktion in der „Lade“ um leere Seiten zu füllen. Ob das jetzt viel besser geworden ist, wage ich bei manchen Berichten zu bezweifeln.

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Antworten

  1. Danke für diesen sehr anschaulichen und nebenbei auch gut geschriebenen Artikel. Faszinierend, wie viel sich seither verändert hat! Du kannst den Reporter der „Welt am Montag“ auch heute nicht verbergen. Danke nochmal und Forza Viola!

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