Viel Glück, Orti!

„Ein, zwei Scheissjahre“ kündigte Manfred Schmid an, als er Austria-Trainer wurde. Das Zitat ist inzwischen legendär, auch wenn Schmid in seinen ersten zwölf Monaten selten recht mit seiner Prognose behielt. Ob diese im zweiten Jahr wahrer wird, liegt vor allem an den kommenden Wochen, denn die Austria muss etliche Weichen stellen, damit die Saison 2022/23 der abgelaufenen Spielzeit auch nur annähernd das Wasser reichen kann. Der Versuch einer Analyse und Einordnung eine Woche vor Trainingsstart.

Dankbarkeit - für eine großartige Saison der Veilchen!

Ein geniales „Scheissjahr“

Inzwischen liegt das violette Fußballfest – ein perfekter Austria-Nachmittag vor ausverkauftem Haus, mit einem souveränen Sieg gegen den Vizemeister und einem wunderschönen Abschied von zwei Austria-Legenden – über zwei Wochen zurück. Die spätestens dabei entstandene Euphorie rund um den neuen Weg der Veilchen ebbt aber weiterhin kaum ab. Durchaus zurecht, denn was der Austria in den letzten Monaten gelungen ist, ist beachtlich:

  • Manfred Schmid und sein Trainerteam entwickelten eine Mannschaft, bei der in jedem Spiel der Saison eine klare Spielidee, taktisch gefinkelte Überlegungen, viel Einsatz- und Laufbereitschaft, der Glaube an sich selbst und Selbstvertrauen zu sehen waren.
  • Immer mehr junge Spieler wurden ein Teil dessen. Im Laufe der Saison wurden 26 Spieler eingesetzt. Davon waren 13, die Hälfte, aus dem Austria-Nachwuchs, also „made by us“. Fast genauso viele, nämlich 12 Spieler, waren U21-Spieler (also jünger als 21 Jahre oder sie wurden im Laufe der Saison 21).
  • Die Neuzugänge Manfred Fischer, Lukas Mühl, Marvin Martins und Lucas Galvao wurden rasch zu Leistungsträgern, mit ihrer hohen Einsatzbereitschaft obendrein zu Publikumslieblingen, zu denen mit Noah Ohio auch ein weiterer Neuzugang avancierte.
  • Die Austria wurde Dritter, hatte mit acht Niederlagen die wenigsten in der Liga hinter Salzburg (ex aequo mit Sturm), zudem kassierte die Austria die wenigsten Gegentore hinter Salzburg.
  • Bei den Einsatzzeiten junger Spieler liegt die Austria ebenso im Spitzenfeld der Liga wie bei den Einsatzzeiten österreichischer Spieler. Zählt man nur österreichische Torschützen, liegt die Austria gar auf Platz 1.
  • Von 36 Spielen der Saison (in allen Bewerben) war die Austria in nur einem einzigen chancenlos, nämlich beim 5:0 in Salzburg. Davon abgesehen wurde kein einziges Spiel mit mehr als einem Tor Unterschied verloren.
  • Nur gegen Salzburg wurde das direkte Duell verloren, gegen WSG Tirol und Rapid endete es Unentschieden, gegen alle anderen gewann die Austria den direkten Vergleich, auch gegen Sturm mit zwei Siegen.
  • Ob gegen WAC oder Sturm in der Generali-Arena, sowie in der Südstadt oder Klagenfurt – in jedem „Alles oder nichts“-Entscheidungsspiel dieser Saison war die Austria voll da und holte einen Sieg.
  • Von Woche zu Woche wurde die Entwicklung der Austria sichtbarer – und damit die Euphorie unter Austria-Fans und -Sympathisanten so groß wie lange nicht mehr. Ein neuer Mitglieder-Rekord wurde erzielt, im Play-Off lag der Zuseherschnitt mit 11.306 in lange nicht mehr erlebten Höhen.

Berücksichtigt man, dass die Austria abseits des Spielfelds um ihr Überleben kämpft, die letzten Jahre so viele negative Schlagzeilen brachten wie noch selten in der 111-jährigen Geschichte, und vor der Saison das gesamte Trainerteam und wichtige Teile des Kaders neu formiert wurden, auch noch Pichler und Wimmer just zum Saisonstart gingen, ist die Saison 2021/22 ein noch größerer Erfolg – und vielleicht gar einer der größten der letzten Jahrzehnte, wenn man die Erwartungen, die Voraussetzungen und das schlussendliche Resultat abgleicht.

Doch so schön der Blick zurück auf 2021/22 ist: Noch wichtiger ist der Blick nach vorne auf 2022/23.

Manfred Fischer - einer der Gründe, wieso die Saison so gut lief

Ein schwieriges „Scheissjahr“?

Vielleicht behält Manfred Schmid doch noch recht – und die kommende Saison wird ein „Scheissjahr“? Die Voraussetzungen dafür wären gegeben:

  • Nach derzeitigem Stand soll die Austria mit vier Punkten Abzug in die Meisterschaft starten. Damit würde ein Erreichen des oberen Play-Offs sehr, sehr schwierig werden.
  • Mit Markus Suttner und Alexander Grünwald fehlen nicht nur zwei Leistungsträger des Play-Offs, sondern Identifikationsfiguren für die gesamte Austria-Familie, Leader innerhalb des Kaders, Vorbilder und mahnende Stimmen für junge Spieler, sowie verlängerter Arm von Manfred Schmid.
  • Mit Patrick Pentz und Eric Martel fehlen voraussichtlich weitere Leistungsträger. Blickt man auf die Startelf des 4:2-Siegs gegen Sturm Graz, werden nach aktuellem Stand fünf Positionen neu besetzt werden müssen, was einem spürbaren Kaderumbruch gleichkommt.
  • So schön das frühe Fixieren einer internationalen Gruppenphase ist, wartet im Herbst ein Mega-Programm, zumal die Winter-WM in Katar den Terminplan in die Enge treibt. Zwischen dem 17. Juli (erste Cup-Runde) und dem 13. November (letzte Bundesliga-Runde) muss die Austria 27 (!) Spiele bestreiten: 16 in der Liga, acht international, (hoffentlich) drei im Cup. 27 Spiele in 122 Tagen bedeutet, dass es von Mitte August bis Anfang November in jeder (!) einzelnen Woche eine englische Woche mit einem Wochentagsspiel geben wird, einzig Ende September gibt eine Länderspielpause eine kurze Erholungsphase.
  • Umso wichtiger werden diverse Auslosungen. In der Bundesliga blühen lange Auswärtsreisen nach Lustenau, Altach oder Innsbruck, selbst die kürzeste Auswärtsreise (außer dem Derby) führt in die Steiermark. Losglück würde bedeuten, dass diese weiten Reisen (mit Übernachtung) entweder schon in den ersten Runden oder erst im Frühjahr anstehen, wenn es keine englische Wochen gibt; keinesfalls aber am Wochenende nach einer internationalen Auswärtsreise mit Rückkehr in Wien-Schwechat am Freitag-Morgen und Aufbruch gen Österreichs Westen am Samstag-Mittag.

Unter diesen Voraussetzungen bekommt die Kaderplanung noch mehr Relevanz als ohnehin stets. Das Handy von Manuel Ortlechner erlebt wenig ruhige Minuten, sein Verhandlungsgeschick ist gefragt, denn trotz drei bis sechs Millionen Euro, die die UEFA im Herbst auf Austrias Konto überweisen wird, bleibt der finanzielle Rahmen sehr eng. Und damit sind wir beim Titel dieses Artikels: Ortlechner wird Glück brauchen! Er hat kaum Budget für Transfers, muss aber die Abgänge von Schlüsselspielern ersetzen und den Kader für englische Wochen breiter aufstellen. Da braucht es nicht nur Kreativität, sondern eben auch Glück und ein gutes Händchen. Vor einem Jahr hatte er dieses mit u.a. Mühl, Martins oder Fischer. So auch jetzt?

Haris Tabakovic hat in der 2. Liga eine unfassbare Torquote und bringt als Spielertyp neue Faktoren in unser Offensivspiel: Größe, Präsenz und Physis. Es waren auch viele andere Klubs aus Österreich an ihm dran, wir freuen uns, dass er sich für Austria Wien entschieden hat.
Manuel Ortlechner über den ersten Transfer des Sommers

James Holland passt sportlich und menschlich sehr gut in unser Teamgefüge und verkörpert alles, was ich mir auf der Position des zentralen, defensiven Mittelfeldspielers vorstelle.
Manfred Schmid über den zweiten Transfer des Sommers

Wie ersetzt die Austria Grünwald und Suttner - nicht nur am Feld, sondern vor allem in der Kabine?

Kaderplanung 2022/2023

Haris Tabakovic und James Holland werden Mitte Juni nach Wien übersiedeln und das Training unter Manfred Schmid aufnehmen. Das steht fest. Wer wird das noch tun? Auf den folgenden Positionen besteht Handlungsbedarf:

Tor

Auch wenn es noch nicht offiziell bestätigt ist: Patrick Pentz wird die Austria ablösefrei verlassen. Die Austria sieht nicht in Ammar Helac oder Mirko Kos die neue Nummer 1, sondern wird Ersatz verpflichten. Heinz Lindner wird dies nicht sein, er lehnte einen langfristigen FAK-Vertrag ab und wird im Ausland ein Mehrfaches von dem verdienen, was die Austria ihm anbot. Wunschkandidat ist Christian Früchtl. Der 22-Jährige ist Bayerns Ersatz für Manuel Neuer, würde aber diese Position aufgeben, um zur Austria zu wechseln. Dass das noch nicht passiert ist, liegt an den Vorstellungen des FC Bayern für eine Ablösesumme. Einigt man sich nicht, wird die Austria wohl in Österreich ihre neue Nummer 1 finden – wohl in Ried oder der Südstadt, auch wenn Samuel Sahin-Radlinger (29) und Andreas Leitner (28) sehr unterschiedliche Spielertypen sind, für Letzteren immerhin keine Ablöse fällig wäre.

Verteidigung

Rechts ist die Austria mit Martins, Teigl und Ivkic bestens gerüstet. Anders sieht dies links aus: El Sheiwi wird die Sommer-Vorbereitung aufgrund seines Kreuzbandrisses weiterhin verpassen, Antovski hat zwar seine Schambeinentzündung überstanden, überzeugte Manfred Schmid aber bisher nicht. Also wird auch hier ein Neuzugang nötig. Aufgrund des Österreicher-Topfes (max. sechs Legionäre im Matchkader, die Austria hat bereits fünf) geht der Blick eher in die Heimat statt ins Ausland. Da gibt es aber wenig (leistbare) Auswahl. Benjamin Böckle (19, Liefering) soll Wunschkandidat sein, aber auch Angebote aus Graz und Deutschland haben. Also bedarf es Kreativität: Lucas Galvao (in einer Vierer-) oder Manfred Fischer (in einer Fünferkette) könnten interne, nicht ganz optimale Lösungen sein. Hartnäckig hält sich das Gerücht, dass Philipp Wiesinger (28, LASK) aus Linz nach Wien übersiedeln könnte. Er könnte sowohl außen als auch innen spielen. Innen ist die erste Reihe mit Mühl und Galvao ebenso hervorragend aufgestellt wie mit Handl die B-Elf. Für die Kaderbreite braucht es aber – auch angesichts dessen, dass Esad Bejic noch lange fehlen wird – wohl noch einen Innenverteidiger. Das könnte intern Raphael Schifferl sein oder auch ein Spieler, der primär für links (z.B. Wiesinger) oder die Sechs verpflichtet wird, aber auch innen aushelfen kann.

Zentrales Mittelfeld

James Holland kehrt zurück, Florian Wustinger soll sich schrittweise in der Kampfmannschaft etablieren, bei Matthias Braunöder stehen die Zeichen auf einen Verbleib. Damit ist im zentralen Mittelfeld, in dem auch Fischer spielen kann, eine hervorragende Basis gelegt. Ein weiterer Spieler wird aber wohl allein schon für die Kaderbreite nötig sein. Bei Eric Martel ist ein Verbleib weiterhin nicht ganz ausgeschlossen, aber eher unrealistisch. Mit Julian Baumgartlinger (34) wurde zumindest vor einigen Wochen gesprochen. Peter Michorl (27) werden Abwanderungsgedanken aus Linz nachgesagt. Stefan Nutz (30) wurde zuletzt mehrfach mit der Austria in Verbindung gebracht. Bereits anderswo unterzeichnet haben Raphael Holzhauser und Michael Liendl, die ebenso nicht zurückkehren werden wie Zlatko Junuzovic.

Offensive

Nicht zuletzt durch die Rückkehr von Fitz (bereits seit einigen Wochen wieder fit und gut in Form), Teigl (in der Vorbereitung wieder dabei) und Huskovic (am Weg der Genesung), sowie die Verpflichtung von Tabakovic hat der FAK offensiv reichlich Optionen. Aber: in der Tabelle der geschossenen Tore 2021/22 lag die Austria nur auf Platz 6 bzw. 7 (ex aequo mit dem LASK). Djuricin ist mit neun Toren bester Torschütze, dahinter folgen drei Spieler mit je fünf Toren. Zum Vergleich: Bei Sturm haben die Top-Torschützen je 14, 13, 11 und 6 Tore erzielt. Auch deshalb hat Trainer Schmid zuletzt, als Tabakovic bereits längst unterzeichnet hatte, angekündigt, in der Offensive Handlungsbedarf zu sehen. Ein Kandidat ist Nikola Dovedan (27), von 2006 bis 2010 in der Austria-Akademie, und nach seinem Aus in Nürnberg ohne Verein. Für die langfristige Perspektive wird den Veilchen Interesse an Dominik Weixelbraun (18, LASK Amateure) und Manuel Polster (19, VfB Stuttgart II) nachgesagt. Ebenfalls 19 Jahre ist Martin Pecar jung, er bleibt voraussichtlich ein Veilchen, weil die Austria durch ihre Connection zu Oliver Glasner, den sowohl Ortlechner als auch Jürgen Werner gut kennen, eine wirtschaftlich sehr attraktive Kaufoption mit Eintracht Frankfurt ausgehandelt hat.

Fazit

Eine geniale Saison 2021/22. Und nun aber sehr fordernde Vorzeichen der Saison 2022/23. Sportdirektor Ortlechner hat mit der Kaderplanung wohl das Lenkrad, um zu steuern, wie fordernd die kommende Spielzeit wirklich wird. Im Tor und in der linken Außenverteidigung besteht dringend Handlungsbedarf, im zentralen Mittelfeld, in der Offensive und auch in der Innenverteidigung könnten ebenso Neuzugänge kommen, sodass in der nächsten Woche wohl drei bis sechs Verpflichtungen zu erwarten sind. Parallel dazu werden Verhandlungen geführt, um 2023/24 auslaufende Verträge vorzeitig zu verlängern.

Auch Manfred Schmids und Manuel Ortlechners Verträge enden im Sommer 2023. Gelingt die kommende Saison auch nur halb so gut wie die abgelaufene, wird eine Verlängerung ihrer Arbeitspapiere eine Selbstverständlichkeit. Die Austria macht wieder Spaß – und das ist vor allem ihr Verdienst.

Wie siehst du das? Was sind deine Erwartungen an die Saison 2022/23? Welche Transfers siehst du dringend notwendig? Und in welchen Punkten widersprichst du der eben gelesenen Einschätzung? Kommentiere unterhalb!

Trotz komplizierten Voraussetzungen: selten war das Vertrauen in ein Trainerteam so groß wie in dieses.

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Antworten

  1. Im Großen und Ganzen gehe ich d´accord mit deinen Einschätzungen. Beim Punkteabzug rechne ich mit – 2 Punkten oder gar keinem Abzug, wenn das Urteil gegen Blau-Weiß Linz zum Präzedenzfall dienen kann. Die größte Baustelle sehe ich auf Links und im Tor. Wenn wir beide Positionen einigermaßen lösen können, wäre schon viel erreicht. Einen Ohio würde ich mir auch weiterhin wünschen, denn gerade Umschaltsituationen mit so schnellen Spielern wie er es ist, werden vor allem international gefragt sein.

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